Straßen und Gassen [1]

(Villa)

"Mama, was müssen wir hier machen?", fragte er.
Misstrauisch huschte sein Blick durch die Schatten der Gassen.
Dann dauerte es ja noch länger, bis er Eis bekam...

"Ich will nur was holen...", sie drehte sich zu ihm um und zeigte mit dem Daumen auf einen kleinen Eisstand.
"Hol dir doch ein Eis und warte genau hier. Ich bin gleich wieder da..."
Weg war sie.

Verwirrt ging er zu dem Eisstand und holte sich ein Eis.
Hatte seine Vorteile, wenn man klein uns süß war. Man musste nichts zahlen...
Er ging zurück zu der Stelle, an dem seine Mutter verschwunden war und setzte sich auf den Boden.
Sein Eis schleckend warte er brav.

Nach einer Weile kam sie grinsend wieder.
"Ich hoffe es hat nicht zu lange gedauert...", meinte sie, fröhlich vor sich hinsummend.
Das war ein Paradies für Raiko gewesen.

"Schon okay..."
Er drehte die leere Waffel in den Händen.
"Wo warst du?"

"Ich hab mir nur was schönes besorgt", grinste sie und legte den Kopf unschuldig schief.
Röcke waren so~ nützlich.

"Mama, in der Schule tut man sich nicht gegenseitig weh? Oder? Da sind alle Freunde?"
Nachdenklich hob er den Kopf.
"Da gibt es keine Drachen?"

"Ich denke nicht...Ich hab noch keine Drachen gesehen. Und nein, in der Schule wird dir keiner weh tun..."
Dafür würde sie schon sorgen.
Sie kniete sich vor ihn.
"Aber wahrscheinlich wirst du die meiste Zeit alleine sein...Tut mir leid"

"Ich bin nie allein, Mama. Nicht solange es Engel und Sterne gibt", grinste er und stand auf.

"Dann bin ich ja beruhigt...", sie legte ihm eine Hand an die Wange und seufzte tief.

"Warum ist Daddy eigentlich nicht mitgekommen? Eine Familie ist doch sonst auch immer zusammen..."

"Ich erkläre es dir irgendwann einmal, ja? Nicht jetzt...nicht jetzt..."
Yuu würde seine Gründe gehabt haben und die gingen sie nichts an.

"Okay, Mama..."
Er hüpfte voraus.
"Kommst du? Ich will die Schule sehen!"

Sie bewegte sich nicht und musterte den Boden.
Raiko hatte noch nicht einmal bemerkt, dass Rees nicht mehr vor ihr stand.

"Mama?"
Er rannte zu ihr zurück und stellte sich vor sie, genau in ihr Blickfeld.
Den Kopf in den Nacken gelegt sah er sie auf goldenen Augen an, die blonden langen Zotteln hingen ihm ins Gesicht.
"Was ist, kleine Mama?", grinste er sie breit an.

Ihre Augen weiteten sich und sie senkte sich auf die Lippe beißend den Kopf.
"Mach das nie wieder", sagte sie leise, ihre Stimme brach bei dem letzten Wort.
Schnell stand sie auf und ging vor.
"Komm..."

"Was den?", er rannte ihr hinterher.
Kurz bevor er bei ihr ankam färbten sich seine Augen wieder blau.
"Das hat Yuu immer gesagt! Er meinte du bist klein!", er ginste weiter.
"Aber ich finde du bist groß!"
Würde jeder sagen der 80 cm kleiner war als Raiko

"Das hat er schon immer gesagt", lachte sie leise, aber es klang nicht ansatzweise fröhlich.
"Du bist ja auch noch klein...wenn du älter bist, bist du größer als ich."
Schnell wischte sie sich mit den Ärmeln ihres Pullis über die Augen, half aber nicht viel.

"Ich bin ja auch ein großer starker Mann!", meinte er stolz und schwellte die Brust an.
"Hattest du Yuu auch im Kopf?"

"Nein, Rees. Hatte ich nicht.", murmelte sie und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht, damit er endlich still war.
Wunder Punkt.

"Ich schoooon! Er hat erzählt das du auch mal bei den großen Haus am Meer warst! Ich find das lustig."

"Hat er das...anscheinend hat er dir viel erzählt, hm?"
Eigentlich wollte sie es gar nicht hören, egal was es war.

"Nein, eigentlich war er meist still...er hat sich nur oft mit den anderen gestritten...hm...meist hat er mit mir geredet wenn es dunkel war. Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist, weißt du. Ich denke da ist es am schlimmsten, wenn man allein ist, oder?"
Er sah sie eine Weile lang an.
"Aber ich finde er hatte recht damit, das ich ich dich nie so sehen dürfte, wie du dich gibst, Mama. Das du nicht nur hasst, sondern nur nicht jedem vertrauen kannst, weil man zu dir mal ganz böse war. Mit ihm hast du auch mal Streit gehabt."
Er legte den Kopf schief.
"Er hat mir auch gesagt ich soll dich beschützen, weil es ganz viele böse Wesen gibt, kurz bevor der Drache KNACK gemacht hat...aber eines hab ich nie verstanden...es geht um einen Platz im Leben, den ich dir geben soll...aber was ist das? Ich meine sowas hat man doch so oder so schon, oder? Muss man den erst finden oder kann man dem jemandem wegnehmen?"
Kopfschüttelnd senkte er den Blick wieder.
"Anscheidet hatte man ihn dir mal gegeben und genommen....komisch oder? Ich versteh es auch nicht, aber wenn du es mir erklärst, Mama, dann versuch ich es zu sein. Dann haben wir beide einen Platz, oder?"

Raiko stoppte mitten in der Bewegung.
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie senkte den Kopf.
Ein minimales Zittern überfiel sie.
"Inszeniert Inszeniert Inszeniert Inszeniert Inszeniert Inszeniert", murmelte sie immer wieder.
Eigentlich wollte sie ja weitergehen, aber ihre Beine gehorchten ihr gerade nicht.
"Was für ein Idiot..."

"Was bedeutet Ins...Inszidingsda?", fragte Rees und blieb ebenfalls stehen.
Er griff vorsichtig nach ihrer Hand.

"Ich bin so dumm....Ich bin so verdammt dumm...."
Während ihr immernoch die Tränen über die Wangen liefen, fing sie an zu lachen.
"Was für eine Naivität...ich glaubs nicht....Ich glaubs echt nicht mehr..."

"Mama?"
Rees lies sie blitzschnell los.
"Alles okay?"

"Natürlich...alles in Ordnung.", sie lächelte, "Alles gut. Alles wie immer"
Sie holte tief Luft, wischte sich die Tränen weg und lächelte.
"Erzählst du mir, wie du zu der Ärztin gekommen bist?", fragte sie.
Teilweise wollte sie es wissen, auf der anderen Seite musste sie sich ablenken.

Er sah sie noch kurz misstrauisch an, setzte dann aber zum erzählen an.
"Als die Frauen in weiß-schwarz alle Engel waren bin ich losgelaufen um dich zu suchen. Auf dem Weg waren viele Dämonen..."
Er zog die Ärmel hoch und zeigte ihr die dünnen Narben auf seinem Unterarm.
"...die mochten mich aber alle nicht....also bin ich zu den Menschen. Die sind alle viel lieber."
Er senkte den Kopf und zog den Ärmel wieder über den Arm.
"Aber ich hab doch immer so Hunger...Also bin ich Abends durch die Gassen gegangen...manchmal liegen dort Menschen einfach so auf dem Boden. Doch in der Nacht war da ein Mann der mich gepackt hat...der war böse, ich schwör es dir! Der hat mich an die Wand gedrückt und meine Klamotten zerrissen. Er meine Eltern sollten ihre Kinder nicht alleine im Dunklen raus lassen..."
Er zog nun lass lange Hemd ein Stück nach oben und zeigte ihr die lange Narbe an seiner Hüfte.
"Yuu hat damals gesagt ich soll einfach die Augen zumachen..als ich sie wieder aufgemacht habe, war es schon hell und überall war Blut....der Mann, also der Böse, der lang auf dem Boden...aber...aber der war auseinander...verstehst du. Hier."
Händefuchtelnd deutete er einen Schnitt unter den Rippen an.
"Zwei Hälften... Da bin ich ganz schnell weggerannt. Auf der Staße hat eine alte Frau mich festgehalten und mich gefragt warum ich alleine bin. Als sie das Blut gesehen hat, sagte sie, ich soll ins Krankenhaus. Sie konnte mich aber nur hinbringen und musste dann weiter. Ich hab dann auf Stühlen gewartet, doch bevor ich dran war, hatte ich doch Angst und bin losgelaufen...in den Keller. Doch eine Frau dort hat es gemerkt...so eine ..Schwester? Sie ist nachgerannt und ich wollt mich verstecken, also bin ich in einen Raum gegangen. Und da...", er richtete den Blick wieder auf.
"..Waren ganz viel Essen! Ich hatte wirklich ganz doll Hunger, Mama...sonst hätte ich wirklich vorher gefragt ob ich mir was nehmen darf...leider haben sie mich da auch gefunden. Sie haben alle ganz erschrocken geschaut und mich Kan...Kan..Kanibale... genannt. Dann wurde ich zu einem Arzt geschleppt. Da hab ich Mama Enko auch zum erstenmal getroffen. Stell dir vor ich musste mich nackich machen!", er plusterte anscheinend immernoch empört die Backen auf.
"Dann haben die mir Blut geklaut ohne zu Fragen und in ein Zimmer gesperrt. Ich hab sie reden hören und hab geschrien, aber keiner außer Mama Enko hat geantwortet...sie hat gesagt ich würde jetzt hier wohnen und würde was zu essen bekommen wenn ich brav bin....Nach ganz langer Zeit hat sie mich auch rausgelassen und wir sind in einen Saal mit ganz vielen Geräten. Da haben sie mich auf den Tisch gesetzt...der ist ganz aus Metall, weißt du?"
Er knöpfte sich das Hemd langsam und verbittert auf.
"Ich weiß nur noch das es weh tat, ganz schreckich weh, aber Enko sagte mir immer das es gleich vorbei ist...dann wurde es dunkel..."
Man sah nun die lange Narbe die sich längs über seinen Bauch zog. Zwar dünn, durch seinen regenerierenden Körper, aber nennoch weiß schimmernd da.
"Als ich wach wurde wollte ich die Augen aufmachen, aber es waren keine mehr da..."
Sein Blick wurde zu ernst für sien kindliches Gesicht.
"Aber das da."
Er deutete auf seine Leiste. Dort war ein Tattoo mit kleiner schwarzer Schrift.
Hel 01

Raiko hockte sich vor ihn, sodass sie auf Augenhöhe waren und nahm ihn fest in den Arm.
"Es tut mir leid Rees...Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Ich habe dich wieder und wieder umgebracht, dich für etwas gehasst, für das du gar nicht konntest...Ich war nicht besser wie Cade...es tut mir leid Rees...es tut mir leid. Hätte ich das nicht getan, wäre das wahrscheinlich nicht passiert....es tut mir leid.", hauchte sie, fast schon lautlos.
Sie löste ihren Griff und nahm sein Gesicht in die Hände.
"Als Mutter versag ich ziemlich...", lächelte sie dann schief.