Heruntergekommener Bahnhof [1]

"Ich dachte es wäre der Onkel von deiner Mom...war die nicht ein Mensch?", er zog die Brauen hoch.

Sie legte verwirrt den Kopf schief.
"Hab ich das gesagt? Ich meinte eigentlich, den Onkel väterlicherseits. Der Bruder meiner Mutter starb bei einem...Unfall."

"Unfall....aha....und dein Onkel hält nicht zu deinem Vater, oder wie?", fragte er und stand auf.

"Doch. Tut er. Deshalb hat er mich auch aufgenommen."
Sobald er aufgestanden war, began Raiko schon damit, das riesige Bett abzuziehen.

"Aha..."
Er setzte sich auf den Boden und sah ihr dabei zu.

"Was aha?", fuhr sie ihn leicht gereizt an und schmiss die Bettwäsche und das Betttuch in die Ecke.
Dann stand sie schnell auf und holte neues aus dem Schrank.

Er könnte sich ja jetzt einmal auf der Matraze wälzen...aber das wäre zu gemein.
"So sehr stinke ich ja jetzt auch nicht...."

"Nein, eigentlich riechst du recht gut, aber man merkt eben, dass du nicht hierher gehörst."
Wäre es.
Sie bezog eilig das Bett und versuchte dabei, es so wenig wie nur irgend möglich zu berühren.
"Und jetzt raus hier."

Seufztend stand er auf und berzog sich in ihr Zimmer.
"Ich riech gut, aha? Schätzchen, ich riech nach Asche und Vogel, dass ist alles."

Sie verdrehte die Augen.
"Nenn mich nicht Schätzchen.", meinte sie und zog sich erstmal was vernünftiges an.

"Wieso nicht?"
Er pflanzte sich unter ihre Decke.
"Du bist doch eines."

"Nein."
Sie räumte noch ein wenig auf und ging dann ins Bad, um auch dort die 'Spuren' zu beseitigen, bevor sie wiederkam.

Yuu schlief schon mit dem Küken auf der Brust unter der Decke.
Das Küken pipste leise als Raiko herein kam.

"Hallo Flauschball", lächelte sie leicht, hörte kurz darauf aber auch schon das Öffnen der Haustür, das deutlich lautere Zuschlagen und ein Knurren.
"RAIKO!"
Mit einem Seufzen drehte sie ab und ging hinunter, die Zimmertüre sorgfältig hinter sich schließend.

Leider war ihr das Küken hinterhergehuscht und lief er nun fröhlich fiepend hinterher.
Raiko war seine neue Mama-Henne!

Das hatte dann aber Glück, nicht im nächsten Moment von Mamas Hinterteil zermatscht zu werden.
Raiko landete gerade nämlich wieder rückwärts im Flur.
Mit trotzigem Blick wartete sie darauf, dass ihr Onkel fertig mit dem Schreien und wüstem Beschimpfen ihrer selbst und ihrer Mutter war, bevor sie nochmal eine geschossen bekam und dann wieder hochgehen konnte.
Das war das gute an ihm: Er stellte fest, das war die Wahrheit, er fragte nicht nach, schrie rum und fertig.
Eilig packte Raiko also das Küken und verzog sich nach oben in ihr Zimmer.
"Du darfst mir nicht hinterher laufen, Flauschball", murmelte sie und blinzelte leicht.

Das Küken fiebte und plusterte den Flaum auch.
Auch Yuu war anscheinend wieder wach geworden, denn das Bett war leer.
Von unten hörte man einen Schlag.

Schmiss er etwa schon wieder die Teller kaputt?
Seufzend rollte sie sich auf dem Bett zusammen und kraulte das weiße Etwas.

Nein, ihren Onkel...
Immerhin hatte er sie geschlagen.

Wusste Raiko ja nicht.
Ihr Onkel zerschlug eben öfters mal die Teller.
Sie brauchte sich nur mit etwas anderem beschäftigem.
Wie dem Kraulen eines Kükens.

Das pickte nach Fusseln auf der Decke.
Hunger!

Raiko würde ihn ganz gewiss NICHT füttern!
Irgendwo würde schon eine Henne herumlaufen...und ein Haushuhn würde es auch tun!

Zu spät, das Küken verdrehte schon die Augen und kippt um.
Aus wars.

Raiko zuckte nicht einmal mit der Wimper und schloss einfach nur die Augen.
Yuu hätte es so oder so umgebracht, also wofür den Aufwand?
Zack, schon war sie weggenickt.

Als Yuu hochkam, nahm er das Küken.
Das fiebte leise.
"Mach mich auf den Weg, Raiko. Bye."
Weg war er.

Sobald er weg war öffnete die Halbdämonin wieder die Augen und stand auf.
Ein merkwürdiges Leuchten lag in den Blauen.
Ruhig bewegte das Mädchen sich auf die Tür zu und verließ das Haus.
Ihr Weg führte zurück zu dem Hause ihres Vaters.

Yuu brachte das Küken zu einer Henne und beschloss dann im Wald zu bleiben.
Immerhin konnte er Raiko nicht immer auf die Eierstöcke gehn.

Ein paar Stunden später ging Raiko wiedermal mitten in der Nacht spazieren.
'Zu Hause' war sie noch nicht gewesen.
Heute Nacht würde sie das auch nicht mehr sein.
Wie benommen streifte das Mädchen ziellos durch die Stadt.

Dort war auch im Schutz der Dunkelheit ein Engel unterwegs.
Eine Junge Frau, mit zwei weißen Flügeln, die schlaff seitlich an ihr herunterhingen und auf dem Boden schleiften.
Dadruch waren die Federspitzen schon ganz schutzig-grau und ausgefranzt.

Das machte sich aber gut...ein verwahrlost aussehender Engel wurde von einer Dämonin umgerannt, die ganz dem Klischee entsprechend auch noch voller Blut war.
War mag die Ironie?
Besagte Dämonin blinzelte den Engel nur verwirrt an.
Was stand der da auch rum?