Heruntergekommener Bahnhof [1]

Yuu zog leicht die Brauen hoch, als er den Kleinen erblickt.
"Du solltest schlafen, Kleiner."

"Du bis grooooß", stellte der Kleine nur fest und sah immernoch neugierig und jetzt auch staunend zu Yuu hoch.
Das s-Wort wurde ignoriert.
Das war kein liebes Wort!

"Nicht unbedingt größer als andere Männer...", meinte er und hob den Zwerg hoch auf seinen Schoß ans Fenster.
"Und warum bist du noch wach?"

Noa quietschte vergnügt auf und patschte mit den Hände zuerst an der Fensterscheibe herum, und dann, sobald er bemerkte, dass es dunkel war und er nichts sehen konnte, an Yuu.
"Papa is au groooooß!"
Er streckte sich und zog an einer von Yuus Haarsträhnen.
"Rai auuu...aba Papi is großer!"
Bei der Frage sah er nachdenklich zu ihm hoch.
"Nich' s-Wort kann."

"Deine Schwester ist auch nicht sonderlich groß, kein wunder das dein Papa da größer ist."
Er lies den Kleinen einfach machen.
"Du kannst also nicht schlafen, was?", er lächelte leicht und strich dem Kind über den Kopf.
"Dann warte ich mit dir, bis du wieder müde bist."

Immernoch sah er ihn groß aus dem einen blauen und dem einen schwarzen Auge an, bevor er plötzlich anfing zu strahlen und Yuu die Arme um die Mitte schlang, so gut er es eben mit seinen kurzen Ärmchen konnte.
"Freuuuuuuund~"

Er pattete ihm nur auf den Rücken.
"Ja ja, kleiner Mensch. So kann man es sehen."

Jetzt plusterte er allerdings die Wangen beleidigt auf.
"Ich bin kei M-Mesch! Ich bin a Dehnung!"

"Eine Dehnung? Soso interessant", lachte er und schlag locker die Arme um den Kleinen.
"Mach die Augen zu, Kleiner, sonst wirst du nie müde."

"Oki, Freund!"
Damit kuschelte er sich brav an seinen neuen Freund und schlief auch schon bald wieder tief und fest.

Yuu beschloss, einfach dort sitzen zu bleiben, um den Kleinen nicht zu wecken.
So verbrachte er die Nacht und wartete auf den Morgen.

Noa schlief jedenfalls gut an seinem neuen Freund und das auch bis in den Mittag hinein.
Irgendwann kam Raiko dann auch mal und hob ihn vorsichtig von Yuu, um ihn wieder ins Bett zu bringen.
"War er die ganze Zeit hier?"

"Nein...er kam etwa eine Stunde, nach dem du eingeschlafen bist. Der kleine Dämon", er grinste leicht und stand auf.
Da er durch die unbequeme Haltung die ganze Nacht über sehr verspannt war, steckte er sich erstmal genüsslich und sah dann zu Raiko.

Sie zuckte leicht zusammen.
"Wie hast du ihn genannt?"
Man konnte sich ja auch verhört haben...

"Dämon", kam es knapp von ihm, während sich seine Augen sich leicht verengten.
Fast schon wurde Raiko wie eine Beute gemustert.

"Setz ihm nicht solche Flausen in den Kopf...", meinte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.
"Der rennt schon immer überall rum und erzählt, er wäre ein großer, böser 'Dehnung'"

Er lächelte, doch sein Blick sagte ihr ganz klar, dass er ihre Lüge erkannte.
Er war nicht dumm, immerhin hatte der den Teufel an ihm gerochen.
Es blieb nur eine Frage: Was hatte dieser Mensch damit zu tun...oder...?
Langsam ging Yuu ein paar Schritte auf sie zu, packte sie am Kinn und leckte kurz über ihren Hals, ehe er die Nase in ihr Haar vergrub.
Der Geruch war dünn...er könnte genau so gut nur eine Spur von ihrem Bruder sein.
Vielleicht lag es auch daran, dass sie älter war, und sie nicht mehr so stark nach Dämon roch...aber für ihn sah sie aus wie ein normaler Mensch.
Yuu konnte sich nicht vorstellen, dass sie etwas anders war.
Er lies sie los und trat einen Schritt zurück, ehe er sie nochmal musterte.
Nein. Umöglich.

Verwirrt rieb sie sich über den Hals.
"Was soll das?!"
Natürlich war ihr sein Blick nicht entgangen und sie hatte den furchtbaren Drang, Noa einfach zu schnappen und mit ihm davonzurennen.
Angst stieg wie Säure in ihr hoch, schnürte ihr die Kehle zu.

"Nichts...", meinte er nur und drehte sich ab.
"Was ist dein kleiner Bruder den so? Ich mach ihm und dir Frühstück."

Sie spürte, dass es besser war, nicht nachzufragen...sie wollte auch gar nicht wissen, was das gewesen war.
"Musst du nicht, er schläft so oder so noch."

"Aber vielleicht willst du was zu essen...du bist zu mager...", bemerkte er und kackste kurz mit dem Hals.
"Spiegelei?"

Sie musste sich wirklich stark beherrschen, um nicht schon wieder zusammen zu zucken.
Heftig schüttelte sie den Kopf.
"Ich bekomm jetzt nichts runter."
Vielleicht sollte sie mal nach Noa sehen?

"Dann gibts das eben nacher für euch beide", meinte er lächelnd und sah sie nun wieder nachdenklich an.
Was machte er sich eingendlich Gedanken darüber?
Er wuschelte ihr einmal kurz durchs Haar, ehe er ins Bad ging.
"Entspann dich, Raiko."

Okay, sie sah doch wirklich nochmal nach Noa!
Sobald Yuu im Bad verschwunden war - und sie sich ein paar Millimeter unter der Berührung weggeduckt hatte - ging sie zu ihrem kleinen Bruder und zog ihn sich eilig auf den Schoß.
Ihm ging es gut...kein Grund zur Sorge....ganz ruhig...

Nach 10 Minuten kam Yuu wieder und setzte sich neben sie.
"Vor was hast du Angst, Raiko? Du hast doch gesagt, dein Vater will nichts von deinem Bruder. Ich seit jetzt nur noch Luft für ihn. Warum so besorgt?"

Verwirrt starrte sie Yuu an.
"Ich weiß es nicht..."
Sie schlang die Arme etwas fester um den immernoch schlafenden Kleinen.

"Entspann dich", wiederholte er.
"Jetzt geht es nur noch darum, dass du ihn durchbringst."

Tief sog sie die Luft ein, hielt sie einen Moment lang an und entließ sie dann wieder.
"Du hast ja Recht...", murmelte sie dann und seufzte leise.
Ebenso vorsichtig kuschelte sie ihn wieder unter die Decke.
Noa murrte leicht, pennte aber weiter.

"Warum war dein Kleiner Bruder eigentlich nicht bei deiner Mutter?", fragte er schließlich.
Gingen wir der Sache mal auf den Grund.

"Ich sagte doch schon: Er ist ein Junge. Für den hätte man eventuell noch Verwendung."